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§ 20 Abs. 3 S. 2 des Kodex Auswahl des Tagungsortes; Anonymisierung in Akten

AZ.: FS II 5/05/2005.5-65 (2. Instanz)

Leitsätze

1. Die Frage, ob ein Tagungsort allein nach sachlichen Gesichtspunkten ausgewählt wurde, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu beantworten.

2. Bei der Abwägung der Umstände ist zu berücksichtigen, wie sich der Teilnehmerkreis regional zusammensetzt und ob der Tagungsort von den Teilnehmern in vernünftiger Weise zu erreichen ist. Von Bedeutung ist auch, ob das Programm derart straff ist, dass kaum oder nur wenig Freizeit verbleibt, ferner ob der Freizeitwert des Ortes so groß ist, dass die Teilnehmer geneigt sind, dessen Freizeitmöglichkeiten wahrzunehmen und dafür die Teilnahme an der Tagung zu vernachlässigen. Gegen eine Auswahl des Tagungsortes allein nach sachlichen Gesichtspunkten spricht es etwa, wenn die Einladung die Freizeitmöglichkeiten aufführt oder sogar besonders herausstellt oder zeitgleich an dem Ort ein besonderes, attraktives Ereignis stattfindet, das den Eingeladenen bekannt ist. Findet die Veranstaltung an einem Ort mit überwiegendem touristischem Charakter statt, so ist zu beachten, ob die Tagung in einen Zeitraum fällt, in dem der Ort -wie in der eigentlichen Hochsaison- für Freizeitaktivitäten besonders attraktiv ist.

3. Die beanstandeten Mitgliedsunternehmen haben gemäß § 9 Abs. 1 FSA-VerfO Anspruch auf Akteneinsicht. Das Recht auf vollständige Akteneinsicht ist Teil des Anspruchs auf rechtliches Gehöhr. Anonymisierungen sind daher nicht zulässig.

4. Ein Mitglied hat die volle Verfahrensgebühr 1. Instanz zu tragen, selbst wenn die Entscheidung des Spruchkörpers 1. Instanz zum Teil aufgehoben worden ist.

Sachverhalt

Ein Mitgliedsunternehmen führte einen 2-tägigen Diabetes Workshop im Ostseeheilbad Zingst durch. Die Veranstaltung begann am Freitag um 16 Uhr. Sie wurde am Samstag ab 9 Uhr fortgesetzt, durch eine Mittagspause von 1 ½ Stunden unterbrochen und endete gegen 18 Uhr nach abschließender Diskussion. Am Sonntag schloss sich ab 9 Uhr ein Referentenpodium an, in dem bis 12 Uhr offene Fragen aus den Vorträgen der Vortage nochmals aufbereitet und diskutiert wurden.
Es nahmen 43 Ärztinnen und Ärzte aus Berlin, aus dem Harz und aus der Region Halle-Leipzig teil. Der Workshop wurde von der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern mit 13 Fortbildungspunkten zertifiziert. Zingst war bereits zur Zeit der DDR Tagungsort für Fortbildungsveranstaltungen.

Der FSA bejahte unter anderem einen Verstoß gegen § 20 Abs. 3 Satz 2 „FS Arzneimittelindustrie“-Kodex. Er mahnte das Unternehmen mit Schreiben vom 8. Juni 2005 ab. Da diese einen Verstoß verneinte, setzte der FSA das Verfahren fort.

Der Spruchkörper 1. Instanz hat am 11. August 2005 folgende Entscheidung getroffen:

1) Es wird festgestellt, dass das Unternehmen mit der Einladung von Ärztinnen und Ärzten zur Fortbildungsveranstaltung „Diabetes Workshop“ gegen den „FS Arzneimittelindustrie“-Kodex verstoßen hat. Der Beanstandung war daher stattzugeben.

2) Das Unternehmen wird verpflichtet, es zu unterlassen,

a) im geschäftlichen Verkehr zu Wettbewerbszwecken Ärzte und Ärztinnen zu Fortbildungsveranstaltungen einzuladen, soweit die Auswahl des Tagungsortes nicht allein nach sachlichen Gesichtspunkten erfolgt, sondern auch in Orientierung am Freizeitwert des Tagungsortes (Seeheilbad Zingst), wie mit der Einladung zum Diabetes Workshop vom … geschehen und/oder

Das Mitgliedsunternehmen hatte im Verfahren vor dem Spruchkörper I. Instanz um Akteneinsicht gebeten. Die Akten wurden dem Mitgliedsunternehmen zur Verfügung gestellt, wobei der Name des Beanstanders geschwärzt wurde.

Die Entscheidung des Spruchkörpers I. Instanz wurde durch den Spruchkörper II. Instanz aufgehoben.

Wesentliche Entscheidungsgründe

Der Einspruch ist zulässig. Er ist innerhalb der Zweiwochenfrist des § 25 Abs. 1 Satz 1 VerfO eingelegt und zugleich, was gemäß § 25 Abs. 1 Satz 2 VerfO geboten ist, begründet worden.

Der Einspruch ist begründet, soweit zu Ziffer 2 a) – Einspruch eingelegt wurde; insoweit ist die Entscheidung des Spruchkörpers 1. Instanz aufzuheben und das Beanstandungsverfahren einzustellen.

Nach Auffassung des Spruchkörpers 2. Instanz hat das Unternehmen nicht gegen § 20 Abs. 3 Satz 2 „FS Arzneimittelindustrie“-Kodex (FS-Kodex) verstoßen; daher ist es insoweit nicht zur Unterlassung verpflichtet.

Nach § 20 Abs. 3 Satz 2 FS-Kodex hat die Auswahl des Tagungsortes für interne Fortbildungsveranstaltungen allein nach sachlichen Gesichtspunkten zu erfolgen. Nach Satz 3 ist ein solcher Grund beispielsweise nicht der Freizeitwert des Tagungsortes. An diese Bestimmungen hat sich das Unternehmen gehalten.

Ob das Unternehmen den Tagungsort allein nach sachlichen Gesichtspunkten ausgewählt hat, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu beantworten. Durch die Wahl des Tagungsortes darf nicht der Eindruck erweckt werden, dass der Freizeit- und Erholungscharakter der Veranstaltung im Vordergrund steht. Daraus, dass nach der Regelung im Kodex der Freizeitwert des Tagungsortes kein sachlicher Grund ist, folgt aber nicht, dass von vornherein alle Orte ausscheiden, denen ein (erheblicher) Freizeitwert zukommt. Das dürfte nämlich auf die meisten Orte in Deutschland zutreffen und gilt vor allem und in besonderem Maße für größere Städte, in denen die Abendstunden – nach Beendigung des Unterrichts – im Allgemeinen von erhöhter Attraktivität sind. Der FS-Kodex kann nicht dahin verstanden werden, dass solche Orte stets als geeignete Tagungsorte ausfallen. Dann würden nämlich kaum noch Orte für Fortbildungsveranstaltungen übrig bleiben. Nach dem Sinn und Zweck der Regelung ist eine derart enge Auslegung nicht geboten. Vielmehr kommt es auf alle Umstände des Einzelfalles an.

Bei der Abwägung der Umstände ist etwa zu berücksichtigen, wie sich der Teilnehmerkreis regional zusammensetzt und ob der Tagungsort von den Teilnehmern in vernünftiger Weise zu erreichen ist. Von Bedeutung ist auch, ob das Programm derart straff ist, dass kaum oder nur wenig Freizeit verbleibt, ferner ob der Freizeitwert des Ortes so groß ist, dass die Teilnehmer geneigt sind, dessen Freizeitmöglichkeiten wahrzunehmen und dafür die Teilnahme an der Tagung zu vernachlässigen. Gegen eine Auswahl des Tagungsortes allein nach sachlichen Gesichtspunkten spricht es etwa, wenn die Einladung die Freizeitmöglichkeiten aufführt oder sogar besonders herausstellt oder zeitgleich an dem Ort ein besonderes, attraktives Ereignis stattfindet, das den Eingeladenen bekannt ist.

Seebäder wie Zingst haben allerdings einen überwiegend touristischen Charakter; sie sind touristisch geprägt. Daher ist zu beachten, ob die Tagung in einen Zeitraum fällt, in dem der Ort – wie in der eigentlichen Hochsaison – für Freizeitaktivitäten besonders attraktiv ist. Das traf hier jedoch nicht zu. Die Tagung fand Ende April/Anfang Mai statt, d.h. vor der Hochsaison. Zum Baden im Meer ist es zu dieser Jahreszeit im Allgemeinen noch zu kalt. Zur genannten Zeit bietet ein Seebad wie Zingst tagsüber und/oder abends nicht soviel, dass die Teilnehmer dadurch von dem straffen Tagungsprogramm, das einen hohen fachlichen Wert aufwies, abgelenkt worden sind und die Tagung (auch) wegen des Freizeitwertes des Tagungsortes Zingst besucht haben. Aus der Sicht der angesprochenen Ärztinnen und Ärzte kommt hinzu, dass in Zingst bereits zur Zeit der DDR Fortbildungsveranstaltungen stattfanden und insofern unabhängig vom Freizeitwert eine fachliche Tradition entstanden ist.

Dem steht nicht entgegen, dass es auch im Frühjahr viele Besucher gibt, die in Zingst wandern oder Spaziergänge machen. Im genannten Zeitraum unterscheidet das Zingst nicht von den meisten anderen, als Tagungsort in Betracht kommenden Orten, insbesondere Großstädten. Von einem „erhöhten Freizeitwert“ des Seebades Zingst kann daher zum vorliegenden Zeitpunkt keine Rede sein. Zingst ist den angesprochenen Ärztinnen und Ärzten zwar bekannt, hat aber nicht eine derart überragende Bekanntheit und Bedeutung, dass allein der Name Zingst dem Teilnehmer außerhalb der Hochsaison das Vorliegen einer Freizeitveranstaltung suggeriert. Insgesamt wird auch nicht wenigstens bei den Teilnehmern der Eindruck erweckt, dass der Fortbildungszweck nicht allein im Vordergrund steht, sondern zumindest auch der Freizeitwert des Ortes eine maßgebende Rolle spielt.

Zingst war zwar für die Teilnehmer – aus Berlin, aus dem Harz und aus der Region Halle-Leipzig – nicht zentral gelegen, aber gleichwohl nicht allzu weit von ihrem Wohnort entfernt und in angemessener Zeit zu erreichen. Für sie machte es insoweit keinen erheblichen Unterschied, ob die Tagung in Berlin, was der Spruchkörper 1. Instanz für zulässig hält, oder aber in Zingst stattgefunden hat.

Für eine sachliche Auswahl des Tagungsortes spricht nicht etwa, dass zahlreiche Begleitpersonen nach Zingst mitgereist sind und während der Fortbildungsveranstaltung an dessen Freizeitwert interessiert waren. Das unterscheidet Zingst nicht von anderen Orten mit Freizeitwert, insbesondere nicht von – als Tagungsort erlaubten – Großstädten, denen ein erheblich höherer Freizeitwert zukommt als Zingst.

Unter Berücksichtigung aller Umstände hat das Unternehmen Zingst nach sachlichen Gesichtspunkten als Tagungsort ausgewählt. Ihr Einspruch zu Ziffer 2 a) ist daher begründet.

Die Verfahrensrüge war begründet. Das betroffene Mitgliedsunternehmen hat gemäß § 9 Abs. 1 VerfO Anspruch auf Akteneinsicht. Das Recht auf Akteneinsicht ist Teil seines Anspruchs auf rechtliches Gehöhr. Da die Vorschrift keine Einschränkung enthält, folgt daraus ein Anspruch aufvollständige Akteneinsicht. Das gilt auch im Hinblick auf den Namen des beanstandenden Unternehmens. Das betroffene Mitgliedsunternehmen hat grundsätzlich ein berechtigtes Interesse daran, dass es auch insoweit den Akteninhalt erfährt und der Anzeigende ihm gegenüber nicht anonym bleibt, was auch im Lichte von § 4 Absatz 2 VerfO als bedenklich erscheint. Dabei ist nicht etwa auf die Umstände des konkreten Einzelfalles abzustellen, sondern die Bestimmung ganz allgemein so wie dargelegt auszulegen.

Die Verfahrenskosten legt die Geschäftsstelle des FS Arzneimittelindustrie gemäß §§ 30 ff. VerfO fest. Das Unternehmen hat die volle Verfahrensgebühr 1. Instanz zu tragen, obwohl die Entscheidung des Spruchkörpers 1. Instanz zum Teil – zu Ziffer 2 a) – aufgehoben worden ist. Die Verfahrensgebühr 1. Instanz fällt in voller Höhe an, wenn in 1. Instanz auch nur ein einziger Verstoß festgestellt worden ist und es dabei wie hier zu Ziffer 1) und 2 b) verbleibt, unabhängig davon, in welchem Umfange die Beanstandung gerechtfertigt ist.

Ergebnis

Die Entscheidung des Spruchkörpers I. Instanz wurde bezüglich der vom Mitgliedsunternehmen getroffenen Auswahl des Tagungsortes vom Spruchkörper II. Instanz aufgehoben.

Das Verfahren ist beendet.

Berlin, im November 2005