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§ 9 Abs. 1, 11 Abs. 1 Satz 4, 13 Abs. 3, 19 Abs. 2 Satz 1 VerfO Zur Einstellung wegen fehlender Auf-klärbarkeit des Sachverhalts; zum Ermittlungsrahmen der Spruchrichters; zum Umfang des Akteneinsichtsrechts

Az.: 2018.9-555

Verfahren zu anonymer Beanstandung wegen unzureichender Beweislage eingestellt

Eine der FSA-Schiedsstelle anonym vorgetragene Beanstandung im Zusammenhang mit einer Verordnungsanalyse ist als unbegründet abgewiesen worden. Trotz einer Recherche von mehr als sieben Monaten war es der Schiedsstelle 1. Instanz nicht gelungen, Umstände oder Sachverhalte, die den Vorwurf der Beanstandung gestützt hätten, zu ermitteln.

Leitsätze

  1. Anonyme Aussagen sind allenfalls dann als tragende Beweismittel zu gebrauchen, wenn sie überzeugend durch feststehende Umstände gestützt werden.
  2. Der Spruchrichter hat im Rah­men der erhobenen Beanstan­dung, die den Streitgegenstand bildet, zu ermitteln. Dieser Rahmen ist grundsätzlich weit zu fassen.
  3. Der Spruchrichter 1. Instanz entscheidet grundsätzlich nach billigem Er­mes­sen, wel­chem Er­mittlungs-ansatz er ­folgt, soweit dieser nicht unsachlich ist. Dabei kommt es auf die inhaltliche Auffassung des Spruchrichters 1. Instanz an, nicht auf die des Vorsitzenden des Spruchkörpers 2. Instanz oder die des Unternehmens.

Sachverhalt

Gegenstand des Verfahrens war eine anonyme Beanstandung, ein Mitgliedsunternehmen habe einem niedergelassenen Arzt Analysen seines Kodier- und Abrechnungsverhaltens im Rahmen einer Auswertung durch zwei spezialisierte Beratungsfirmen angeboten; dazu sei der Arzt gebeten worden, dem Unternehmen Datenabzüge von seinem Computer auszuhändigen. Er habe dies abgelehnt, aber den Beratungsunternehmen derartige Daten zur Verfügung gestellt. Im Anschluss daran seien ihm von Mitarbeitern des Unternehmens nicht nur die Ergebnisse der Auswertung, sondern Um- und Einstellungspotentiale auf Präparate des Unternehmens aufgezeigt worden. Dies soll mit einer Äußerung des Unternehmensmitarbeiters verbunden worden sein, dass sich der Arzt für das aufgezeigte Mehrumsatz-Potential dem Unternehmen gegenüber „doch erkenntlich zeigen könnte“.

Der Beanstandende sah darin den Missbrauch einer Verordnungsanalyse mit dem Ziel, Verordnungen für Präparate des Unternehmens zu generieren, Kodierungen zu „frisieren“ und Leistungspositionen des EBM abzurechnen, die der Arzt nicht erbracht hatte.

Das Unternehmen hat die Darstellung des Beanstandenden bestritten, gleichzeitig aber ausgeführt, dass es in erheblichem Umfang mit dem beiden Beratungsfirmen Geschäftsbeziehungen zu Fragen des Kodier- und Abrechnungsverhaltens der Ärzte unterhält, einmal was die Fortbildung der eigenen Außendienstmitarbeiter zu diesen Fragen angeht, die seit Jahren gepflegt würde, zum anderen im Rahmen von internen wie externen Fortbildungsveranstaltungen, die das Unternehmen für Ärzte (auch) zu Fragen des Kodier- und Abrechnungsverhaltens durchgeführt habe.

Die Schiedsstelle hat über Monate hinweg versucht, zu dem behaupteten Sachverhalt ergänzend Erkundi-gungen einzuholen (a) bei zwei Landesärztekammern zu den vom Unternehmen genannten Fortbildungsveranstaltungen, (b) bei einem Berufsverband für Außendienstmitarbeiter in der pharmazeutischen Industrie zum typischen Ausbildungs- und Tätigkeitsprofil von Pharmaberatern und (c) bei einer Reihe von Mitgliedsfirmen zum branchenüblichen Umfang der Beratung von Ärzten zu Fragen des Kodier- und Abrechnungsverhaltens durch Außendienstmitarbeiter.

Während der laufenden Ermittlungen hat das Unternehmen einen Antrag auf Befangenheit des Spruchrichters gestellt, der vor allem mit der Länge des Ermittlungsverfahrens von mehr als 7 Monaten, den wiederholten Nachfragen der Schiedsstelle und inhaltlichen Differenzen zum Gang der Ermittlungen begründet wurde. Der Vorsitzende der Schiedsstelle II. Instanz hat den Befangenheitsantrag abgewiesen; die tragenden Gründe dazu werden auszugsweise weiter unten berichtet.

Wesentliche Entscheidungsgründe

Die Ermittlungen der Schiedsstelle verliefen letztlich ergebnislos.

Die Darstellung des Sachverhalts durch den Beanstandenden einerseits und das Unternehmen andererseits widersprechen sich in allen entscheidungsrelevanten Punkten. Die monatelangen Bemühungen der Schiedsstelle vom Beanstandenden selbst oder von Landesärztekammern weitere Auskünfte zu erlangen, die den konkreten Einzelfall oder das Verhalten der Außendienstmitarbeiter des Unternehmens in ähnlichen Fällen hätten näher beurteilen lassen, waren ergebnislos.

Die Auskünfte zum branchenüblichen Umfang der Beratung von Ärzten zu Fragen des Kodier- und Abrechnungsverhaltens durch Außendienstmitarbeiter von Pharmaunternehmen und zum typischen Ausbildungs- und Tätigkeitsprofil von Pharmaberatern ergaben zwar, dass andere Unternehmen in diesem Bereich kaum oder überhaupt nicht tätig sind und dass eine derartige Tätigkeit von Außendienstmitarbeitern vom Berufsverband kritisch gesehen wird, sie führten jedoch nicht zu Erkenntnissen, die den konkreten Sachverhalt der Beanstandung hätten weiter aufklären lassen.

In seinem Beschluss vom 20. Mai 2019 hat der Vorsitzende des Spruchkörpers 2. Instanz darüber hinaus ausgeführt, dass „bei anonymen Aussagen wie der des Beanstanders (…) ohnehin Vorsicht geboten (sei); (sie) wären al­len­falls dann als tragende Beweismittel zu ge­brauchen, wenn sie überzeugend durch festste­hende Umstände gestützt (würden).“ Festste­hende Umstände, die den Vorwurf der Beanstandung gestützt hätten, waren ebenso wenig zu ermitteln wie vergleichbare Sachverhalte, die zum Beweis des beanstandeten Vorgangs möglicherweise hätten füh­ren können. Allein die Tatsache, dass die Zusammenarbeit des Unternehmens mit den beiden Beratungsfirmen im Vergleich zu anderen Unternehmen der Branche ungewöhnlich erscheint, reicht dazu nicht aus.

Nach § 13 Abs. 1 VerfO können Mitglieder des jeweiligen Spruchkörpers wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen an ihrer Unparteilichkeit zu begründen (vgl. dazu § 1036 Abs. 2 ZPO). ….

Eine Besorgnis der Befangenheit ist gegeben, wenn aus der Sicht des ablehnenden Unter­neh­mens (im Folgenden kurz: Unternehmen) nachvollziehbar ein vernünftiger, objektiver Grund besteht, der geeignet ist, Misstrauen an der Unparteilichkeit des Richters zu begründen. An einem solchen Grund fehlt es hier.

Bloße inhaltliche Differenzen zwischen dem Unternehmen und dem Spruchrich­ter 1. Instanz genügen nicht. Auch etwaige Verfahrensverstöße des abgelehnten Richters oder etwaige inhaltlich fehlerhafte Zwi­schenentscheidungen sind grundsätzlich noch kein Ableh­nungs­grund, ebenso nicht etwaige Ver­stöße gegen Denkgesetze oder Ungeschicklichkeiten. Nur wenn Gründe vorliegen, die da­für sprechen, dass die Feh­ler­haftigkeit auf Voreinge­nom­men­heit beruht, ist es anders. …..

Bei der Würdigung ist davon auszugehen, dass es auf die inhaltliche Auffassung des abge­lehn­ten Richters ankommt, solange sie nicht neben der Sache liegt, demnach grundsätz­lich nicht auf die inhaltliche Auffassung des Vorsitzenden des Spruchkörpers 2. Instanz oder die des Unternehmens. Der Spruchrichter 1. Instanz, der gemäß § 19 Abs. 2 Satz 1 VerfO den Sachverhalt zu er­mitteln hat, entscheidet daher grundsätzlich nach billigem Er­mes­sen, wel­chem Er­mittlungsansatz er ­folgt, soweit dieser nicht unsachlich ist. Erst und nur dann kommt insoweit die Annahme einer Voreingenommenheit in Betracht.

Der Ermittlungsansatz des Spruchrichters 1. Instanz begründet keine Besorgnis der Befan­gen­heit. Im Schriftsatz vom (…) macht das Unternehmen allerdings zu Recht geltend, dass sich der Spruchkörper 1. Instanz nicht in der Rolle einer quasi „strafprozessual“ orien­tier­­ten, ganz allgemein tätig werdenden Ermittlungsbehörde sehen darf. Vielmehr hat er im Rah­men der erhobenen Beanstan­dung, die den Streitgegenstand bildet, zu ermitteln. Dieser Rahmen ist grundsätzlich weit zu fassen; er ist nicht überschritten worden.

Der Umstand, dass dem Unternehmen im Wege der Akteneinsicht zum Teil Dokumente zur Verfügung gestellt worden sind, in denen die Namen der befragten Personen geschwärzt waren, um diesen gegenüber den Grundsatz der Vertraulichkeit zu wahren, genügt eben­falls nicht, um eine Besorgnis der Befangenheit zu rechtfertigen, obwohl insoweit kein rechtliches Gehör gewährt worden ist.

Nach § 9 Abs. 1 VerfO verfügt das betroffene Mitglied über ein jederzeitiges Akteneinsichts­recht. An einer näheren Ausgestaltung fehlt es. In seiner Entscheidung vom 17. November 2005, Az. FS II 5/05/2005.5-65, hat der Spruchkörper 2. Instanz in einem obiter dictum ange­nommen: Da die Vorschrift keine Einschränkung enthält, folgt daraus ein Anspruch auf vollst­ändige Akteneinsicht. Nach Dieners, Handbuch Compliance im Gesundheitswesen, 3. Aufl., Kapitel 13, Rdnr. 118, kommt aber in besonderen Einzelfällen eine Anonymisierung von Kopien in Be­tracht. Ob das hier zu bejahen ist, braucht der Vorsitzende des Spruch­kör­pers 2. Instanz nicht zu entscheiden.

Nach § 147 Abs. 2 StPO, auf den der Spruchrichter 1. Instanz verweist, kann al­lerdings die Einsicht in die Akten oder einzelne Aktenteile versagt werden, soweit dies den Untersuchungszweck gefährden kann. Ähnlich verhält es sich nach § 49 Abs. 1 OWiG. Da es sich hier (…) um ein Zi­vilverfahren im Rah­men des Vereinsrechts handelt, kommt allen­falls eine entsprechende An­wendung in Be­tracht. …. Aus der argumentativen Heranzie­hung des § 147 Abs. 2 StPO durch den Spruch­richter 1. Instanz folgt nicht, dass er beab­s­ichtigt, außerhalb des Streitgegenstandes zu ermit­teln, und deshalb befangen sein könnte.

…. Den Sachverhalt der Beanstandung hat das Unterneh­men eingehend bestritten. Da die Beanstandung anonym erfolgt ist, kommt zu diesem be­haup­teten Vorgang selbst keine Beweis­aufnahme in Betracht. Bei anonymen Aussagen wie der des Beanstanders oder auch bei etwaigen ent­spre­chenden anonymen Aussagen befragter Ärzte ist ohnehin Vorsicht geboten; sie sind al­len­falls dann als tragende Beweismittel zu ge­brauchen, wenn sie überzeugend durch festste­hende Umstände gestützt werden. (…)

Ergebnis

Die Schiedsstelle hat das Verfahren daher gem. § 11 Abs. 1 Satz 4 VerfO eingestellt, da sich der Sachverhalt in einer für eine Entscheidung notwendigen Weise nicht aufklären ließ und dazu ausgeführt:

Aus dem Beschluss des Vorsitzenden des Spruchkörpers 2. Instanz gem. § 13 Abs. 3 VerfO

Das Ablehnungsgesuch des betroffenen Mitglieds gegen den Vor­sit­zen­den des Spruchköpers

1. Instanz war unbegründet.

Ein Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung war nicht zulässig (§13 Abs.7 VerfO).

Berlin, im August 2019