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§ 20 Abs. 3 Satz 2 FSA-Kodex Fachkreise – Anreizwirkung eines Tagungsorts, hier: Prien am Chiemsee. Abwägung der Anreizwirkung mit sachlichen Gesichtspunkten; ex-ante-Betrachtung

AZ.: II. Instanz: FS II 2/17/ 2017.6-522

Leitsätze

1. Prien am Chiemsee hat für die Ärzte aus entfernteren Gebieten eine attraktive Lage und weist einen nicht unerheblichen Freizeitwert auf. Daraus folgt für diese Ärzte ein zusätzlicher, sachfremder Anreiz zur Teilnahme an einer Fortbildungsveranstaltung.

2. Die Auswahl des Tagungsortes muss allein nach sachlichen Gesichtspunkten erfolgen. Dabei sind allerdings sachliche Gründe in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen und gegenüber – ggf. bestehenden – sachfremden Anreizen abzuwägen.

3. Bei der Bewertung eines Tagungsorts ist eine ex-ante-Betrachtung, also zum Zeitpunkt der ursprünglichen Planung, keine ex-post-Betrachtung geboten. 

Sachverhalt

Dem FSA ging eine anonyme Beanstandung zu, mit der ein Kolloquium der Firma Berlin-Chemie AG (im Folgenden: das Unternehmen) unter anderem damit bean-tandet wurde, die Veranstaltung habe in einem Hotel mit überwiegendem Freizeitcharakter stattgefunden.

Das Unternehmen hatte die Veranstaltung im Juni 2017 (Freitag/Sonnabend) im 4-Sterne-Yachthotel Chiemsee, Prien, durchgeführt. Es handelte sich um ein „Interdisziplinäres Kolloquium“, zertifiziert durch die Ärztekammer Bayern, mit Themen, die für Hausärzte relevant waren. Die Themen betrafen fünf Indikationsgebiete des Unternehmens. Die Teilnehmergebühr bei Übernachtung betrug 75 €.

An dem Kolloquium nahmen 82 Ärzte teil. 31 kamen aus der Region Nürnberg/Erlan-gen, 26 aus der Region Augsburg, jeweils ca. 10 aus dem Landkreis München und der Region Ingolstadt; aus der Region Rosenheim, zu der Prien gehört, aus der Re-gion Landshut und aus dem Allgäu niemand.

Das Programm begann am Freitagabend um 18 Uhr 15 mit der Begrüßung der Teilnehmer, ab 18 Uhr 30 gefolgt von einem Fachreferat. Ab 20 Uhr gab es das Abendessen. Am nächsten Tag wurde die Veranstaltung ab 9 Uhr mit fünf Fachbeiträgen fortgesetzt, unterbrochen von einer Kaffeepause (30 Min.), einem Mittagsimbiss (1 Std.) und einer weiteren Kaffeepause (30 Min.). Die Tagung endete gegen 16 Uhr 30.

Das Unternehmen hat vorgetragen:

Wegen des geplanten großen Einzugsgebietes der in Betracht kommenden Teilnehmer – von Erlangen bis Rosenheim und von Augsburg bis Passau – sei die Region am Chiemsee als relativ zentraler Veranstaltungsort ausgewählt worden.

Bei der geplanten Größe der Veranstaltung mit etwa 100 Teilnehmern seien viele Hotels von vornherein wegen zu geringer Bettenzahl oder fehlender freier Kapazität ausgeschieden, ebenso Hotels, die ihren Gästen die kostenlose Nutzung ihres Wellness-Bereichs böten.

Das Yachthotel Chiemsee sei kein Hotel mit überwiegendem Freizeitcharakter. Es verstehe sich auch als Tagungshotel mit entsprechender Technik und biete keine kostenlosen Wellness-Anwendungen oder besondere Freizeitmöglichkeiten. Das Hotel liege verkehrsgünstig und decke ein relativ großes Einzugsgebiet ab. Es handele sich nicht um ein Luxushotel, sondern um ein typisches 70er-Jahre-Hotel mit rustika-er Ausstattung.

Das Hotel sei vor allem auf Grund seiner Größe, der Eignung für größere Tagungen (mit entsprechender Technik), der guten Verkehrsanbindung und aus Kostengesichtspunkten ausgewählt worden.

Das straffe Veranstaltungsprogramm habe keine Freizeitmöglichkeiten erlaubt.

Die Abmahnung des Spruchkörpers 1. Instanz, mit der der Tagungsort beanstandet wurde, blieb erfolglos. Das Unternehmen trug dazu weiter vor:

Ein Verstoß gegen § 20 Abs. 3 Satz 2 FSA-Kodex Fachkreise (im folgenden FSA-Kodex) sei nicht gegeben. Die Auswahl des Tagungsortes und der Tagungsstätte sei ausschließlich aus sachlichen Gründen geschehen.

Die Tagungsstätte sei nicht als extravagant einzustufen; sie sei nicht für ihren Unterhaltungswert bekannt.

Prien sei für Ärzte aus den betreffenden Außendienst-Regionen (nördlich, südlich und nordöstlich von München) verhältnismäßig gut zu erreichen. Die Planung sei bereits im Sommer 2016 erfolgt, die Buchung im November 2016. Im Frühjahr 2017 habe der Außendienst damit begonnen, die Ärzte zu der Tagung einzuladen. Im Mai 2017 habe sich herausgestellt, dass die Resonanz in der Region 118 nicht besonders groß gewesen sei, wahrscheinlich wegen einer längeren Erkrankung des Regionalleiters. Daher sei in Abweichung von der ursprünglichen Planung die Veranstaltung weit überwiegend von Teilnehmern aus der entfernteren Region nördlich von München besucht worden.

Da es bei der gebotenen ex-ante-Betrachtung auf die ursprüngliche Auswahl ankomme und diese sachgerecht gewesen sei, sei die spätere Abweichung unerheblich. Eine Verpflichtung, den Veranstaltungsort zu wechseln, habe nicht bestanden. Das sei weder sachgerecht noch zumutbar gewesen, schon wegen der Kürze der Zeit bis zur Tagung. Außerdem wären durch einen Wechsel erhebliche finanzielle Nachteile entstanden.

Mit Entscheidung vom 19. Dezember 2017 hat der Spruchkörper 1. Instanz festgestellt, dass das Unternehmen gegen § 20 Abs. 3 FSA-Kodex Fachkreise verstoßen hat. Das Unternehmen wurde verpflichtet, es künftig zu unterlassen, die Auswahl eines Tagungsortes, an den das Unternehmen Angehörige der Fachkreise zu internen Fortbildungsveranstaltungen einlädt, nicht allein nach sachlichen Gesichtspunkten vorzunehmen, so wie es bei dem Kolloquium vom 23. – 24. Juni 2017 im Yachthotel Chiemsee, Prien, geschehen war.

Für die Auswahl von Prien als Tagungsort seien sachliche Gründe nicht nachvollziehbar. Der Ort sei für die Teilnehmer weder zentral gelegen noch gut erreichbar gewesen, ihm käme allerdings eine besondere Attraktivität mit hohem Freizeitwert zu.

Dass die ursprüngliche Planung der Veranstaltung für einen regional weiter gefassten Teilnehmerkreis geplant gewesen sei, war nach Auffassung des Spruchkörpers 1. Instanz nicht erheblich. Bei einem zeitlichen Vorlauf von einem Jahr müsse das Unternehmen regelmäßig prüfen, ob sich Änderungsbedarfe ergäben und diese ggf. zeitnah berücksichtigen, u.U. auch die gebuchte Tagungsstätte stornieren und eine andere wählen. Verschaffe sich das Unternehmen diese Kenntnis erst 4 – 6 Wochen vor Veranstaltungsbeginn, lasse dies auf eine unzureichende interne Organisation schließen. Sei der zuständige Mitarbeiter längere Zeit erkrankt, so habe ein Unternehmen der hier gegebenen Größe ausreichend Möglichkeiten, im Bedarfsfall frühzeitig eine Krankheitsvertretung sicherzustellen.

Gegen die Entscheidung hat das Unternehmen Einspruch eingelegt. Es vertiefte sein Vorbringen 1. Instanz.

Wesentliche Entscheidungsgründe

Der Einspruch ist zulässig. Er ist innerhalb der Zweiwochenfrist des § 25 Abs. 1 FSA-VerfO eingelegt und nach Verlängerung der Begründungsfrist durch den Vorsitzenden – ausnahmsweise wegen besonderer Umstände – fristgemäß vom Unternehmen begründet worden (vgl. dazu die Berichterstattung vom 25. April 2018).

Gegenstand der Verfahrens 2. Instanz ist gemäß dem Verbot 1. Instanz aus § 20 Abs. 3 Satz 2 FSA-Kodex, ob das Unternehmen den Veranstaltungsort und die Veranstaltungsstätte allein nach sachlichen Gesichtspunkten ausgewählt hat, dagegen nicht auch die weiteren anonym erhobenen Beanstandungen (§ 25 Abs. 7 Satz 2 FSA-VerfO). Insoweit hat der Spruchkörper 1. Instanz keine Verstöße festgestellt.

Der Einspruch des Unternehmens ist unbegründet. Auch nach Auffassung des Spruchkörpers 2. Instanz hat das Unternehmen gegen § 20 Abs. 3 Satz 2 FSA-Kodex verstoßen.

Nach § 20 Abs. 3 Satz 2 FSA-Kodex hat die Auswahl des Tagungsortes und der Tagungsstätte für interne Fortbildungsveranstaltungen sowie die Einladung hierzu allein nach sachlichen Gesichtspunkten zu erfolgen. Nach Satz 3 ist ein solcher Grund nicht der Freizeitwert des Tagungsortes. Nach Satz 4 sollen die Unternehmen Tagungsstätten vermeiden, die für ihren Unterhaltungswert bekannt sind oder als extravagant gelten.

Im vorliegenden Fall ist die Auswahl des Tagungsortes nicht allein nach sachlichen Gesichtspunkten erfolgt.

Der Spruchkörper 2. Instanz hat zur Auslegung der genannten Vorschrift bereits in seiner Entscheidung vom 17. November 2005 (Az. FS II 5/05/2005.5-65) ausgeführt:

„Ob … den Tagungsort allein nach sachlichen Gesichtspunkten ausgewählt hat, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu beantworten. Durch die Wahl des Tagungsortes darf nicht der Eindruck erweckt werden, dass der Freizeit- und Erholungscharakter der Veranstaltung im Vordergrund steht. Daraus dass nach der Regelung im Kodex der Freizeitwert des Tagungsortes kein sachlicher Grund ist, folgt aber nicht, dass von vornherein alle Orte ausscheiden, denen ein (erheblicher) Freizeitwert zukommt. …Der FSA-Kodex kann nicht dahin verstanden werden, dass solche Orte stets als geeignete Tagungsorte ausfallen. Dann würden kaum noch Orte für Fortbildungsveranstaltungen übrigbleiben. Nach dem Sinn und Zweck ist eine derart enge Auslegung nicht geboten. Vielmehr kommt es auf alle Umstände des Einzelfalles an.

Bei der Abwägung der Umstände ist etwa zu berücksichtigen, wie sich der Teilnehmerkreis regional zusammensetzt und ob der Tagungsort von den Teilnehmern in vernünftiger Weise zu erreichen ist. Von Bedeutung ist auch, ob das Programm derart straff ist, dass kaum oder nur wenig Freizeit verbleibt, ferner ob der Freizeitwert des Ortes so groß ist, dass die Teilnehmer geneigt sind, dessen Freizeitmöglichkeiten wahrzunehmen und dafür die Teilnahme an der Tagung zu vernachlässigen. Gegen eine Auswahl des Tagungsortes nach sachlichen Gesichtspunkten spricht es etwa, wenn die Einladung die Freizeitmöglichkeiten aufführt oder sogar besonders herausstellt oder zeitgleich an dem Ort ein besonderes, attraktives Ereignis stattfindet, das den Eingeladenen bekannt ist.“

Diese Grundsätze gelten nach wie vor.

Die individuelle Gesamtbetrachtung ergibt hier, dass die Auswahl des Tagungsortes Prien am Chiemsee nicht allein nach sachlichen Gründen erfolgt ist.

Entgegen der Auffassung des Spruchkörpers 1. Instanz kommt es auf den Zeitpunkt der Auswahl hierfür, dagegen nicht (auch) auf spätere Umstände an. Wie das Unternehmen zu Recht ausgeführt hat, ist eine ex-ante-Betrachtung, dagegen keine ex-post-Betrachtung geboten. Soweit es demgemäß um die Zusammensetzung des Teilnehmerkreises geht, durfte das Unternehmen bei der Auswahl des Tagungsortes davon ausgehen, dass die Ärzte je etwa zur Hälfte aus den Regionen nördlich bzw. südlich und nordöstlich von München kommen. Als sich herausstellte, dass die meisten Teilnehmer aus der Region nördlich von München anreisen, war eine Verlegung des Tagungsortes bei einer Teilnehmerzahl von rund 80 Personen wegen der Kürze der Zeit bis zum Beginn der Veranstaltung nicht zumutbar, wahrscheinlich auch nicht möglich, während eine Absage der Tagung ebenfalls unzumutbar war.

Aber auch die erforderliche ex-ante-Betrachtung führt zu dem Ergebnis, dass die Auswahl des Tagungsortes nicht allein nach sachlichen Gründen erfolgt ist.

Bei der Gesamtbetrachtung aller Umstände ist davon auszugehen, dass der Chiemsee ein bekanntes bayerisches Urlaubsgebiet ist. Prien am Chiemsee hat demgemäß eine attraktive Lage, was den meisten der eingeladenen Ärzte, die aus Bayern kamen, bekannt sein dürfte, und weist daher aus ihrer Sicht einen nicht unerheblichen Freizeitwert auf. Daraus folgt für die Ärzte aus der Region nördlich von München wegen der größeren Entfernung zum Chiemsee ein zusätzlicher, sachfremder Anreiz zur Teilnahme an der Fortbildungsveranstaltung besteht, um nämlich sich bei dieser Gelegenheit – im Juni – während der Tagung in angenehmer Umgebung aufhalten zu können. Für Ärzte aus dem Bereich um den Chiemsee, besteht ein solcher Anreiz weniger, weil sie wegen der Nähe ihres Wohnsitzes zum See eher jederzeit dorthin einen kurzen Ausflug machen können.

Auf der anderen Seite beruft sich das Unternehmen für die Auswahl von Prien zu Recht auf sachliche Gründe, die in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen sind: Das Unternehmen hatte mit dem Tagungsort und der Tagungsstätte schon positive Erfahrungen gemacht. Das Hotel ist für größere Fortbildungsveranstaltungen geeignet und dafür mit entsprechender Technik gut ausgerüstet. Der Wellness-Bereich kann nur gegen Bezahlung benutzt werden. Für die Übernachtung hat der Teilnehmer 75 € zu zahlen. Außerdem ist das nicht zu beanstandende, zertifizierte Programm derart straff gestaltet, dass es danach, abgesehen von den angemessenen, kurzen Pausen, keine Freizeitmöglichkeiten für die teilnehmenden Ärzte gibt. Auf solche wird bei der Einladung auch nicht etwa hingewiesen. Ferner ist der Tagungsort für Teilnehmer aus beiden Regionen in angemessener, wenn auch unterschiedlicher Zeit zu erreichen.

Nach Auffassung des Spruchkörpers 2. Instanz genügen die genannten sachlichen Gründe gegenüber der zuvor dargelegten, sachwidrigen Anreizwirkung jedoch nicht, um bei der Gesamtbetrachtung zu der Annahme zu gelangen, dass die Auswahl des Tagungsortes allein aus sachlichen Gründen erfolgt ist.

Das bedeutet nicht, dass Prien am Chiemsee in keinem Fall als Tagungsort infrage kommt. Anders kann es sein, wenn weitere sachliche Gründe hinzukommen, etwa wenn es sich etwa um eine Fortbildungsveranstaltung allein für Ärzte aus dem Gebiet um den Chiemsee handelt, bei denen die zusätzliche, sachwidrige Anreizwirkung anders als bei Ärzten aus entfernteren bayerischen Regionen nicht oder kaum ins Gewicht fällt. Nach den Umständen des vorliegenden Einzelfalles hätte das Unternehmen für die geplante Veranstaltung einen Tagungsort außerhalb eines bekannten Urlaubsgebietes auswählen müssen, zum Beispiel Rosenheim oder München.

c) Demnach liegt ein Verstoß gegen § 20 Abs. 3 Satz 2 FSA-Kodex vor. Die Entscheidung 1. Instanz ist daher zu bestätigen.

Gegen die Formulierung des Verbots 1. Instanz bestehen keine durchgreifenden Bedenken. Sie übernimmt zwar den Wortlaut des FSA-Kodex, bezieht sich dann aber auf die konkrete Verletzungsform. Demgemäß umfasst das Verbot die konkrete Verletzungsform sowie Handlungen, die ihr im Kern gleich sind. Bei der Auslegung des Verbots sind maßgebend die vorstehenden Gründe zu beachten.

Ergebnis

Die Berlin-Chemie AG wurde verpflichtet, es künftig zu unterlassen, die Auswahl eines Tagungsortes, an den das Unternehmen Angehörige der Fachkreise zu internen Fortbildungsveranstaltungen einlädt, nicht allein nach sachlichen Gesichtspunkten vorzunehmen, so wie es bei dem Kolloquium vom Juni 2017 im Yachthotel Chiemsee, Prien, geschehen war.

Das Unternehmen wurde darüber hinaus verpflichtet, Geldstrafen in Höhe von jeweils 10.000 € an das Deutsche Medikamenten-Hilfswerk, action medeor e.V., und an die Deutsche Stiftung Denkmalschutz zu zahlen.

Der Spruchkörper 2. Instanz hielt es nicht für geboten, eine öffentliche Rüge gemäß § 24 Abs. 4 Satz 1 FSA-VerfO auszusprechen: Es handelte sich weder um einen besonders schwerwiegenden noch um einen wiederholten Kodex-Verstoß.

Berlin, im April 2018